JOeys Tafelrunde
Eigen- und Fremderkenntnisse

Endlich ist mein Tag gekommen. Der Tag, an den sich meine Mitstreiter noch lange erinnern werden, in den Analen verewigt. Mir schwebt schon eine gefühlte Ewigkeit vor, es diesen armseligen Kreaturen der Gegenseite einmal zu zeigen und einen ihrer bedeutsamen Anführer vom Sockel zu stoßen. Er wurde unter seinem Künstlernamen „Ken Jebsen“ bekannt, hatte im Netz zu C-Zeiten eine gigantische Reichweite und streift jetzt unter seinem richtigen Namen „Kayvan Soufi-Siavash“ durch die Lande, wo er verzweifelt versucht, seine verblendeten Botschaften unter die noch verbliebene Anhängerschaft zu bringen.
Im Jahr 1966 als Sohn eines migrierten Iraners und seiner deutschen Mutter geboren, startete er seine Karriere als Rundfunkmoderator, bis man sich seiner 2011 entledigte, da er für den rbb nicht mehr tragfähig war. Schon damals vertrat er wirre Ansichten, die er bis heute hochhält.
Nun, seine bisherigen Gefährten jedenfalls haben sich von ihm größtenteils abgeseilt. Wahrscheinlich erkannten sie, dass dieser sprachliche Kraftprotz sie in die Irre geführt hatte und weigerten sich, weiter von ihm eingeseift zu werden durch sein guruhaftes Verhalten.
Trotzdem tourt er jetzt gerade durch die Lande und sucht Mitstreiter, die sich seinen Ideologien unterwerfen und diese dann in ihrem Umfeld verbreiten. Und damit muss endlich Schluss sein! Deshalb bin ich heute hier, um „ihm sein Handwerk zu legen“.
Ganz schön schlau, wie er es gerade anstellt, seine Kritiker im Zaum zu halten. Er tourt so rum durch Deutschland, hat seltsamerweise doch etliche Bühnen gefunden, die ihn auftreten lassen, lässt aber erst einen Tag davor den tatsächlichen Veranstaltungsort bekanntgeben. Ich hab zufälligerweise noch eine Eintrittskarte ergattert und steh jetzt in den ersten Reihen vor der Halle, um ganz vorn an der Front einen Sitzplatz zu bekommen. Ich lausche diesen ganzen Verschwörungstheoretikern, Antisemiten und Querdenkern und schüttle innerlich den Kopf über all diesen geistigen Unrat, der aus ihnen heraussabbert.
Endlich geht die Hallentür auf, sie wird von mir regelrecht erstürmt, QR-Code vom Einlass-Personal akzeptiert, und siegesgewiss erhasche ich einen guten mittigen Platz in der ersten Reihe, keine drei Meter von der Bühne entfernt. Meinen Mantel habe ich an der Garderobe nicht abgegeben, ist doch dort ein Utensil verborgen, das mir gegen später den Ruhm verschaffen soll, der mir durch mein Handeln dann gewiss auch zugestanden wird.
Vielleicht kurz zu meiner Person: Bin Mitte 20, aktuell weiblichen Geschlechts und eingebunden in bestimmte Aktivitäten gegen Nazis. Zu C-Zeiten war ich schon bei einigen Demos dabei gegen „Rechts“ und auch erfolgreich bei Straßenklebe-Aktionen gegen den menschengemachten Klimawandel. Meine Freunde aus der linken Szene haben mir erzählt, dass der pyrotechnische Anschlag auf Jebsen damals bei einer Querdenken-Demo in Stuttgart leider nicht geklappt hat. Deshalb bin ich heute hier, um das zu vollbringen, was bisher misslang. Vor den Konsequenzen meines Handelns hab ich eigentlich keine Angst, da ich erfüllt bin vom Gedanken, etwas Gutes zu tun.
Dieser göttliche Impuls, wie ihn Trumps Attentäter bei der Wahlkampfveranstaltung in Pennsylvania wohl verspürt haben soll, als er ihn erlegen wollte, ist mir nicht eigen. Aber da ist dieses starke Verlangen in mir nach Frieden und Freiheit, das durch solche Gestalten wie Kayvan Soufi-Siavash eingetrübt und gefährdet wird.
Jetzt sitze ich hier in der ersten Reihe, in mich gekehrt, dem Außen verschlossen, habe mich abgeschirmt von all den Chaoten um mich herum, die sich gegenseitig vollsülzen. Fast unerträglich, aber ich habe das so gewollt. Und nun muss ich da durch, muss meine Kräfte wahren, zur Ruhe kommen, um dann zu gegebener Zeit das zu tun, was getan werden muss.