Was für eine Freude, als wir uns nach so vielen Jahren „der Entbehrung“ wieder einmal getroffen hatten zur Jahrgangsfeier. Eigentlich ist das überhaupt nicht mein Ding, zumal mich die Leute von damals nicht sonderlich interessieren, geschweige denn ihr Werdegang. Dieses Mal sollte es aber etwas Besonderes werden, da jeder Teilnehmer eindringlich gebeten wurde, eine kurze, ehrliche Präsentation abzuhalten über den aktuellen Berufsstand.
Das Spannende dabei war, nicht über sich selbst zu reflektieren, sondern über einen der Teilnehmer. Vorbereitend erhielt also jeder der Mitwirkenden die Kontaktdaten irgendeiner Person, über die er sich schlau machen sollte, um im großen Kreis über sie zu berichten. Diese Art von Detektivarbeit gefiel mir außerordentlich und wie es aussah, den anderen ebenso. Letztendlich machten also um die 25 Leute aus dem Städtchen mit, in dem ich meine Kindheit verbracht hatte.
Dann war es soweit. Wir trafen uns abends im großen Nebenraum einer Gaststätte, die schon damals existierte. Als alle eingetroffen waren, stießen wir mit einem Glas Schaumwein an und prosteten uns freundschaftlich zu.
Anfangs dachte ich noch, ich wäre im falschen Film, da ich mich an absolut keinen der Menschen erinnern konnte. Auch die Namensschildchen verhalfen mir nicht, auch nur eine einzige Person ins Gedächtnis zu rufen. Ich hielt mir zugute, dass wir damals ja noch Kinder waren, die sich schnell zerstäubten in alle Herren Winde.
Deshalb war ich froh nach dem ersten Small-Talk-Geschnatter, welches überhaupt mich mein Ding ist, dass wir aufgefordert wurden, unsere Plätze einzunehmen. Als sich dann der Lärmpegel etwas senkte und jemand mit der Gabel einen Glaston erzeugte, wurde es ruhig. Roland, der Organisator begrüßte uns herzlich und bat uns danach, dass sich jeder Jubilar kurz vorstellen sollte.
Wie erwartet, gestaltete sich diese Zeremonie etwas träge. Der alten Frau namens Gertrud zu meiner Linken fielen dabei des Öfteren die Augen zu und Herbert zu meiner Rechten hatte sich in dieser Zeit bereits vier weiß-rote Schorle reingezogen und hing schon etwas schief im Stuhl. Als dann endlich der Letzte seinen Senf über sich abgegeben hatte, gingen wir zum Abendessen über. Danach folgten die Ermittlungsberichte, die jeder von seiner Zielperson abhielt, was mich letztendlich dazu veranlasst hat, diese Zeilen niederzuschreiben.
Ich möchte mich hierbei auf die prägnanten Erläuterungen mancher Leute beschränken, wobei es lustigerweise zu sehr unterschiedlichen Reaktionen kam, sowohl bei den Betroffenen, als auch bei den Unbeteiligten je nach Alkoholpegel.
Da war einmal unser Peter, der früher gerne mit chemischen Flüssigkeiten herum gepanscht hatte und dem man prophezeite, eine entsprechende berufliche Laufbahn einzuschlagen, etwa als Apotheker. Er ist heute ein begeisterter Barkeeper, in der Szene bekannt für seine Pinacolada.
Dann ging es um die kleine Ulrike, die sich in ihrer Kindheit gerne als Dame verkleidete und man davon ausging, dass sie einmal ein Star-Mannequin würde. Heute kann man sie im P14 antreffen, einem Nachtclub, in dem sie mit ihrem „frechen Fächer“ auftritt und sich dabei sehr freizügig zum Ausdruck bringt.
Manfred prophezeite man eine steile Karriere in Konzerthäusern, da er als Kind kaum vom Klavier zu trennen war und in die Fußstapfen von Wolfgang Amadeus Mozart zu treten schien. Heute schuftet er sich unter anderem an den berühmten Steinway-Flügeln ab, und zwar als Angestellter einer kleinen Umzugsfirma, die sich auf den Transport schwerer Gerätschaften spezialisiert hat.
Erinnern kann ich mich noch an Heidruns Werdegang. Ihre stolzen Eltern sagten ihr eine herausragende Rolle voraus in der Gastronomie, da sie damals einfach nicht aufhören wollte, mit dem Essen zu experimentieren. Ihre Mutter kam nicht mehr nach, ihre Klamotten danach zu reinigen. Heute bekleidet sie einen hochrangigen Job in der Entsorgungsindustrie, wobei es ihr nichts auszumachen scheint, mit den hinzu-gereisten Neubürgern Mülltonnen zu leeren.
Zu guter Letzt entsinne ich mich an Klaus-Dieter, den man als Kleinkind schon nicht mehr von seinem Mikroskop wegbrachte, ohne dass er in Tränen ausbrach. Eine wissenschaftliche Laufbahn war ihm eindeutig vorbestimmt. Heute Abend wurde ihm ausnahmsweise ein Freigang genehmigt, da ihm sein wahnhafter Drang zum unerlaubten Schlüsselloch-Gucken zum Verhängnis wurde. Seine ihm angelegte Fußfessel blitzte einmal auf, als er beim Gucken durch Schlüsselloch der Damentoilette erwischt wurde.
Als ich des Nachts dann aufbrach, nachdem ich mich von der Gesellschaft verabschiedet hatte, lief mir ein kalter Schauer über den Rücken. Eigentlich war es mehr eine Flucht, wobei es nicht nur an dieser farblosen Gesellschaft lag, die ihre „rühmliche“ Vergangenheit hochhielt. Es war vielmehr meine Enttarnung, die ich glaubte, geheim halten zu können.
So wurde mir früher durch meine Begabung als Zauberkünstler geweissagt, eine entsprechende Richtung einzuschlagen. Während ich es vor Zeiten mit Links beherrschte, ein Kaninchen aus einem Hut zu holen, gelingt mir das heute nur noch relativ geschmeidig beim Herausfischen von Pfandflaschen aus städtischen Abfall-Behältern. Heidrun und ich sind sozusagen Kollegen vom Fach.
Ob ich die nächste Jahrgangsfeier in 10 Jahren wohl nochmals annehmen werde? Kommt drauf an, welche Schelmereien dann dort geplant werden und ob ich meine öffentliche Schmach bis dahin verdaut haben werde. Wobei ich mich anzumerken genötigt fühle, dass mir bei all meinem Tun eine Fußfessel bislang erspart geblieben ist.