JOeys Tafelrunde
Eigen- und Fremderkenntnisse


Es gibt in meinem Bekanntenkreis außergewöhnliche Menschen, Menschen mit den unterschiedlichsten Fähigkeiten und Ausprägungen. Heute will ich einmal über einen besonders zurückhaltenden Typ berichten, der sich seinen Unauffälligkeit nicht nur nicht schämt, sondern diese sogar herauskehrt. Interessanterweise kommt dieses Phänomen bei beiden Geschlechtern gleichermaßen vor.
Ich schildere jetzt einmal eine typische Szenerie mit einem diesem Menschen, lasst ihn uns maskulin sein und Bernhard heißen. Damit gehe ich Abwegsamkeiten aus dem Weg, da ich niemanden kenne, der so heißt.
Da bist du bei ihm eingeladen zum Abendessen- und kommst aus dem Staunen nicht mehr heraus. Seit Eintreffen bei ihm, schon beim Ablegen der Garderobe, hat er eine Geschichte für dich bereit, die er so richtig vor dir ausbreitet. Er erzählt diese mit voller Inbrunst, macht dabei auch keine Pausen, um wohl keine Langeweile aufkommen zu lassen und kommt dann so in Fahrt, dass er auch alle Nebenstränge ausgiebig auskostet. Um ihm folgen zu können, bedarf es absoluter Aufmerksamkeit.
Mittlerweile seid ihr beide im Wohnzimmer angekommen, wobei du dir schon nicht mehr sicher bist, ob ihr schon gespeist habt oder der Morgen schon angebrochen ist. Du bist mental gefesselt, hängst an seinen Lippen. Es ist eine Art Trance, und in einem Moment der Unaufmerksamkeit läuft dir ein kurzer Schauer über den Rücken, als du dich daran erinnerst, wie teuer die letzte Schamanen-Reise ins Innere gekostet hat. Aber hier bei Bernhard bist du sicher vor Scharlatanen, die die abzocken, dich hinters Licht führen wollen. Ja, und seine Geschichte nimmt gerade eine Linkskurve, kommt mal wieder ab vom eingeschlagenen Weg, hoppelt durch unwegsames Gelände, kommt wieder zurück auf den Weg, sprich Erzählstrang- und du mittendrin.
Längst hast du es dir abgeschminkt, ihn in seinem Redefluss zu unterbrechen, lässt einfach geschehen, gibst dich dem Dargebotenen hin. Konzentration war gestern, du ertappst dich schon bei dem Gedanken, dem Schauspiel gewaltsam zu entkommen. Du erinnerst dich, dass du schon lange geplant hattest, einen Waffenschein zu machen. Wo ist die Küche, wo die Schublade mit den Messern. Hupps, da hat er mich wieder und führt mich weiter durch seine Geschichte, die mittlerweile allerlei Wendungen erleben durfte.
Dann kommt die vermeintlich rettende Idee: Du schließt die Augen und lässt dich vom Stuhl fallen. Am Boden angekommen, verziehst du ein schmerzerfülltes Gesicht und hoffst damit, deinem charmanten Gegenüber so zu entkommen. Das Staunen über deine Befindlichkeit hält bei Bernhard leider nur Sekundenbruchteile an. Er ignoriert einfach deine neue Körperhaltung zu seinen Füßen und waltet seines Amtes in Form neuer Ausschmückungen seiner Erzählung. Dann deine Chance, als ihr rüber geht ins Esszimmer und du nach seiner Toilette fragst.
Dort drinnen angekommen, Ruhe, tiefe Ruhe- und als du deine Sinne wieder einigermaßen zusammen hast, weißt du, was zu tun ist. Check der Größe des Klofenster- Passmaßes, dann auf den WC-Deckel, Fenster auf und kopfüber raus in die Freiheit. Der Aufprall vom 2.Stock war wohl nicht eingeplant und kostete dich vier Wochen Aufenthalt im Krankenhaus plus Reha, doch da ist ein gutes Gefühl in dir, das dir sagt, dass du einem Massaker entkommen bist.
Bernhard ist weiterhin ein beliebter Gast in unserem Kreise, wobei es ihm immer wieder passiert, dass er gefesselt und geknebelt unserem Treiben beiwohnen darf. Als Selbst-Therapie hat er mittlerweile angefangen, beliebige, fremde Telefonnummern anonym anzurufen und den dann Lauschenden seine Geschichten zu erzählen. So richtig zufrieden ist er da noch nicht, da die Toleranz ihm gegenüber sehr willfährig ist. Er scheint aber auf dem richtigen Weg angekommen zu sein, da ihn dies nicht mehr irritiert und er in guter Stimmung schwelgt, selbst wenn der Angerufene längst aufgelegt hat.