Den exakten Zeitpunkt für meine Aktion finden. Wann hat es denn den größten Effekt? Diese Frage taucht bei mir seit geraumer Zeit immer wieder auf und konnte bisher nicht abschließend beantwortet werden, da man für solch eine Tat situativ handeln muss. Man muss zum einen die räumlichen Gegebenheiten berücksichtigen, dann natürlich die Agenda des geplanten Programmes und zuletzt natürlich auch die Anwesenden im Auge behalten, um etwaige Fallstricke zu erkennen, die das Unternehmen gefährden könnten. Ich fühl mich gerade so richtig gestresst, spüre deutlich meinen Pulsschlag und hoffe, dass meine Kurzatmigkeit niemandem auffällt. Ich fühl mich so richtig unangenehm, vor allem, da sich meine Körpertemperatur um einiges erhöht zu haben scheint und mich wohl mein pluderrot getränktes Gesicht früher oder später verraten könnte.
Plötzlich wird es dunkler im Saal. Die Menge beruhigt sich etwas. Der Veranstalter schreitet zum Mikro und kündigt den Star des heutigen Abends an. Frenetischer Applaus von allen Rängen. Und dann kommt er auf die Bühne. Das Klatschen wird noch lauter, fast ohrenbetäubend, die Halle bebt. Ein paar einleitende Worte, gefällige Späßchen, um das gesamte Publikum schon zu Beginn vollends auf seine Seite zu bekommen. Sehr sympathisch, sein Erscheinungsbild, sein Auftreten. Schwarzes Outfit, Stiefel, eine graue Weste und auf dem Kopf ein Strohhut - so zeigt er sich heute. Gelassen und geflissentlich spricht er zu uns, bereitet seine Anhängerschaft auf den heutigen Abend vor, ganz, wie man es von einem medialen Profi erwartet.
Was kommt also auf uns zu? Das Programm heißt „Die Macht der Propaganda“. Ich notiere mir die einzelnen Punkte der Agenda: Tiere, Mensch, Asch-, Milgram und Stanford-Prison-Experimente, Propaganda, Schockstrategie, Gehirn, Mainstream, Weltherrschaft, Exit-Strategie und R-Evolution. Diese 12 Punkte will er uns in den kommenden vier Stunden etwas näherbringen, zwischendurch eine halbstündige Pause, in der er Autogramme in Aussicht stellt. Und abschließend sei noch eine Überraschung geplant. Das gesamte Programm soll also locker fünf Stunden andauern, das Eintrittsgeld kurz im Kopf überschlagen, macht dann nach Adam Riese knapp sechs Euro pro Stunde. Hört sich echt fair an. Da es sich aber um eine reine Gehirnwäsche handelt, für die man auch noch bezahlen muss, ist jeder Cent weggeworfenes Geld.
Wieder und immer wieder rotiert es jetzt in meinem Kopf, zu welchem Zeitpunkt ich in Aktion treten könnte, um den größtmöglichen Effekt zu erreichen. Sollte ich jetzt schon mein „Mitbringsel“ aus der Tasche hervorzaubern und, vorbereitend für meinen Einsatz, bereits in die Hand nehmen. Dann wäre ich für manch einen meiner Nebensitzer vielleicht schon auffällig, da ich nicht mehr in der Lage wäre, mit der Masse mitzuklatschen. Also lass ich das mal schön da drin. Jetzt noch keinen zusätzlichen Stress fabrizieren, bin aufgeregt genug. OK, dann lass ich mich erst mal ein auf den Vortrag, hör mir das Geschwafel an, bis sich ein geeignetes Zeitfenster anbietet für meine Heldentat.
Er beginnt mit seiner Rede, die mehr einer Vorlesung gleicht, da er sich scheinbar nicht verplappern will. Zum einen aus rechtlicher Hinsicht, zum anderen aus Zeitgründen, da er sonst nicht mehr zu bremsen wäre. Was mir dazu einfällt? Schon seltsam, dass so jemand überhaupt noch frei herumlaufen darf. Und dann noch dieses Machogehabe, diese Egozentrik, wenn nicht sogar dieser Narzissmus. Ich schiebe diese Gedanken beiseite und versuche, seinen Worten zu folgen. Nicht ganz einfach, zumal er ein Schnellredner ist und dazu die akustischen Verhältnisse in der Halle nicht optimal sind, um es vorsichtig auszudrücken.
Er spricht von Tieren, beginnt mit den Ameisen, die optimal für ihr Dasein sorgen, nach dem Gesetz der Natur leben. Er nennt es Kooperenz, die intelligente Kombination von Kooperation und Konkurrenz. Sehr witzig, seine Vergleiche mit dem menschlichen Gehabe. Dann kommt er zu den Instinkten der Zugvögel und deren sozialem Wesen- auch sehr lebhaft und lustig vorgetragen. Es folgt ein Ausflug zu den Wölfen, deren strenger Hierarchie und kooperatives Gruppenverhalten.
Dann folgt das Kapitel „Mensch“, ein Mächtiges, das er ebenfalls sehr impulsiv angeht. Er beginnt mit der besonderen Mutter-Kind-Bildung, spricht über die Kita und deren Folgen, über die Kindeserziehung durch staatliche Einrichtungen und Adornos Aussage: „Es gibt kein richtiges Leben im Falschen.“