JOeys Tafelrunde
Eigen- und Fremderkenntnisse


Ende Juni 2023 schrieb ich fünf Artikel über das Vermächtnis eines Seelenverwandten, dem es in jungen Jahren wohl so erging, wie mir gegenwärtig. Im Jahre 1885 wurde Rilke von seinem Vater genötigt, die Militär-Realschule zu besuchen, die er einfach nicht gewillt war, zu absolvieren, sich verweigerte und meistens im Krankenstand darniederlag. In dieser Phase entstand seine Leidenschaft fürs Dichten als Trostspender und Selbsttherapie. Später dann thematisierte er die frustrierende Beziehung mit seiner Mutter über Prosa und Drama, was ihm etwas half, seine Kindheit zu verarbeiten. Als er „durch“ war, orientierte er sich neu, kehrte dem Gestern den Rücken und gab sich seitdem den Vornamen Rainer.
Ich bin zu Hause zwischen Tag und Traum.
Dort wo die Kinder schläfern, heiß vom Hetzen,
dort wo die Alten sich zu Abend setzen,
und Herde glühn und hellen ihren Raum.
Ich bin zu Hause zwischen Tag und Traum.
Dort wo die Abendglocken klar verlangen
und Mädchen, vom Verhallenden befangen,
sich müde stützen auf den Brunnensaum.
Und eine Linde ist mein Lieblingsbaum;
und alle Sommer, welche in ihr schweigen,
rühren sich wieder in den tausend Zweigen
und wachen wieder zwischen Tag und Traum.
Sein Leben blieb aber ein einziges Auf und Ab. Morgens stolzierte er übermütig dem Sonnenschein entgegen, abends verzehrte er sich in Depression. Es war ein buntes Leben, intensiv und ohne Brustpanzer versuchte er, das Leben zu meistern. Viele interessante Frauen begleiteten ihn des Weges, manch einer verfiel er. Seinen endlosen Kampf mit der und um die Liebe drückte er in hingebungsvoller Art aus:
„Liebe ist schwer. Liebhaben von Mensch zu Mensch: das ist vielleicht das Schwerste, was uns aufgegeben ist, das Äußerste, die letzte Probe und Prüfung.“
„Wir müssen in Liebe nur das üben: einander gehen lassen. Zum Festhalten kommt man leicht; wir müssen es nicht lernen.“
Hier fühle ich meine Verbundenheit mit ihm. Tief in mir spüre ich diesen heißen Atem, der mich immer wieder durchdringt, Teil meines Seins scheint. Obwohl ich mich schon lange von ihm abgewandt habe, um seinen Weltschmerz nicht teilen zu müssen, darf er da sein. Und wenn er an meine Tür klopft und sich ein bisschen bei mir aufwärmen möchte, dann bitte ich ihn herein und biete ihm ein schmuckes Plätzchen, auf dass sich bei ihm Wohlbefinden einstellt.
Ende 1926 lag er darnieder im Alter von 51 Jahren und ergab sich dem Tode. Sein Grabstein schmückt noch heute ein Spruch, den er eigens dafür kreierte: „Rose, oh reiner Widerspruch, Lust, Niemandes Schlaf zu sein unter soviel Lidern.“ Schlafe ruhig und lass uns mal wieder im Traum begegnen, mein Freund.