Wir alle wissen um die Bewandtnis des Frosches im Wasserbehältnis, welches langsam erhitzt wird. Dieses schrittweise Hinführen, dieses schleichende Heranführen zeigt im übertragenden Sinn uns Menschen auf, wo wir heute stehen. Situationen, bei denen wir einer Autorität blindlings vertrauen, führen zuweilen zu einem Verhalten, bei dem der Verstand aussetzt.
Eindrucksvoll wurde dies mit dem 1961 durchgeführten Gehorsamkeits-Experiment des US-amerikanischen Psychologen Stanley Milgram bewiesen, welches man später auch in anderen Ländern ähnlich durchführte. Es handelte sich dabei nicht um die Ableitung der Konformitäts-Experimente von Asch, sondern um Tests von Einzel-Personen, welche freiwillig, un-aufgehetzt und ungezwungen die Versuche absolvierten.
Ich hatte schon einmal früher über Milgram berichtet, möchte jetzt aber noch etwas tiefer einsteigen, da die Studie enorme Tragweite bis in die Jetztzeit aufweist und man durchaus Vergleiche heranziehen kann mit aktuellen Geschehnissen.
Es gab von Milgrim wohl noch etliche Variationen der Versuchsreihen. Ich möchte mich aber jetzt nur auf die Urversion beschränken, da diese Abhandlung sonst zu komplex wäre. Auch möchte ich nicht unerwähnt lassen, dass bekannte Filmaufnahmen vom Milgram-Experiment kursieren, die nicht der tatsächlichen Versuchsanordnung entsprechen. Dieser Hinweis ist unter dem Aspekt zu verstehen, polemischen Verfälschungen der tatsächlichen Durchführung vorzubeugen.
Kurze Klarstellung des Experiments:
Es existieren hierbei drei Personen, der Versuchsleiter, ein „Schüler“ und der eigentliche Proband als „Lehrer“. Versuchsleiter und „Schüler“ sind eingeweiht in das Experiment, das damit beginnt, „Lehrer“ und „Schüler“ durch vorgetäuschte Losziehung zu bestimmen. Versuchsleiter und „Lehrer“ begeben sich daraufhin in einen Raum, der mit einer großen Schaltkonsole ausgerüstet ist. Der „Schüler“ wird in einem anderen Zimmer auf einem „elektrischen Stuhl“ fixiert, der natürlich keine Funktion hat.
Dann beginnt die Unterweisung des „Lehrers“, der rein akustisch mit dem „Schüler“ kommunizieren kann. Er liest ihm zig Wortpaarungen vor, die sich der „Schüler“ einprägen muss. Vom Versuchsleiter bekommt der „Lehrer“ die klare Anweisung, den „Schüler“ zu bestrafen, falls dieser einen Fehler bei der Beantwortung der Wortpaarung macht. Vor dem „Lehrer“ steht ein großer, professionell aussehender Apparat, der Schockgenerator, welcher mit allerlei Symbolen ausgestattet ist. Er hat Schalter, die mit dem Spannungsbereich -in 15 Volt-Schritten- von 15 bis 450 Volt gekennzeichnet sind. Sie wurden noch eingeteilt in beschriftete Gefährdungsbereiche, in der höchsten Stufe mit der Aufschrift „Gefahr, heftiger Stromstoß“.
Der „Lehrer“ liest also ein Wort vor und geiselt seinen „Schüler“ daraufhin mit einem Stromschlag, falls dieser“ das zugehörige Wort nicht sogleich findet. Die Bestrafung beginnt bei 15 Volt und steigert sich bei jeder Fehlleistung. Der „Schüler“ reagiert je nach Stromschlag, von „kleiner, schmerzhafter Schrei“, über „Kommunikation, dass man aufhören soll mit der Folter“, „Verweigerung der Mitarbeit“ bis „Bewusstlosigkeit“, exakt nach Vorgabe.
Der Versuchsleiter ermahnt oder motiviert den „Lehrer“ dabei ruhig, aber bestimmt, seinen Job einfach zu machen, egal, wie auch immer der „Schüler“ reagiert. Er begleitet ihn sozusagen bei der Folter, immer unter dem Aspekt der wissenschaftlichen Ausrichtung des Experiments. Man diene ja einer guten Sache, wobei gewisse Grenzen ruhig überschritten werden dürfen.
Was dann zuhauf geschah, war erschreckend für alle Beteiligten und wurde auch als Begründungsmodell herangezogen für die Untaten des bekannten Nazis namens Eichmann, dem auch Hannah Arendt Rechnung trug. Die Wirkung totalitärer Herrschaft nannte sie kontrovers "Banalität des Bösen", verursacht durch den Gehorsam einer Autorität gegenüber. Die „Lehrer“ jedenfalls gingen oftmals bis an die Grenzen ihrer Opfer, oftmals selbst unter größtem Leidensdruck. Keine der Versuchspersonen hörte vor 300 Volt auf, 65% von ihnen gingen sogar bis zur maximalen Spannung von 450 Volt. Die Probanden kamen damals aus allen möglichen Gesellschaftsschichten und Kulturkreisen, wobei auch das Geschlecht keine Rolle spielte.
Kommen wir jetzt zur Begründung, wie es sein kann, dass unsere Autoritäts-Hörigkeit so ausgeprägt ist, warum wir so gerne unsere Verantwortung abgeben. Da ist zum einen die schrittweise Erhöhung der Stromstärke, man erinnere sich an den Frosch, die anfangs harmlos scheint und erst später tiefgreifende Folgen aufweist. Dann das Phänomen der nicht hinterfragten Autorität, um diese nicht zu irritieren. Hinzu kommt noch die Angst, als Dummkopf dazustehen, weil man nicht imstande war, das Experiment zu verstehen. Das geht einher mit unserem Grundbedürfnis nach sozialer Anerkennung. Im vorliegenden Fall war das Opfer unsichtbar, in einem anderen Raum, sodass man den Schaden an ihm nicht direkt miterleben musste. Ein nicht zu vernachlässigender Faktor dürfte noch sein, dass wir, an einer bestimmten Stelle angekommen, uns nicht eingestehen können, aufzuhören, geschweige denn, unsere Fehlleistung zuzugeben.
Die Öffentlichkeit wurde durch die Leid-Medien schon damals an der Nase herumgeführt. Man verurteilte dieses Experiment unter moralischen Gesichtspunkten. Man konnte und wollte sich nicht eingestehen, dass der Mensch prädestiniert ist, sich kleinzumachen und das zu tun, was ihm aufgetragen wird.
Und was können wir daraus lernen? Dieses Gehorsams-Syndrom ist ein aktiver Prozess. Wir lernen von klein auf zu gehorchen und müssen uns dann später neu ausrichten, wenn wir autonom sind. Wir müssen danach streben, die richtigen Fragen zu stellen und uns dabei grundsätzlich jeglicher Autorität widersetzen. Ein natürlicher Widerstand führt dabei zur endgültigen Verweigerung. Das ist das ganze Geheimnis und zeigt auf, dass leider nur sehr wenige unter uns mit offenen Augen durch die Welt gehen und keinem Meister, Guru oder anderer Autorität dienen.