JOeys Tafelrunde
Eigen- und Fremderkenntnisse


Beim Aufräumen fand ich einen Brief, den ein mir Unbekannter an seinen Freund verschicken wollte, es wohl aber nie getan hat. Leicht entmottet und modifiziert, möchte ich dieses Schriftstück der Öffentlichkeit zugänglich machen:
Hey du, hast mir erzählt, dass du die Kommodenschublade deiner Ehefrau geöffnet und ein in Seidenpapier verpacktes Päckchen herausgeholt hast. Es war nicht irgendein Päckchen, sondern eines mit feinster Unterwäsche darin. Du warfst das Packpapier weg und betrachtetest die Seide und die Spitze. Du erläutertest mir: "Dies kaufte ich, als wir zum ersten Mal in Mailand waren. Das ist jetzt acht oder neun Jahre her. Sie trug es nie. Sie wollte es für eine besondere Gelegenheit aufbewahren. Und jetzt, glaube ich, ist der richtige Moment gekommen!"
Du nähertest dich dem Bett und legtest die Unterwäsche zu den anderen Sachen, die später vom Bestattungsinstitut mitgenommen wurden. Deine geliebte Frau war gestorben. Als du dich zu mir umdrehtest, sagtest du: "Bewahre nichts für einen besonderen Anlass auf. Jeder Tag den du lebst, ist ein besonderer Anlass.“
Ich vernehme immer noch an diese Worte. Sie haben mein Leben verändert. Heute lese ich viel mehr als früher, setze mich auf meine Terrasse und genieße die Landschaft, ohne auf das Unkraut im Garten zu achten. Ich verbringe mehr Zeit mit meiner Familie und meinen Freunden und weniger Zeit bei der Arbeit. Ich habe begriffen, dass das Leben eine Sammlung von Erfahrungen ist, die es zu schätzen gilt. Von jetzt an bewahre ich nichts mehr auf. Ich benutze täglich meine Kristallgläser. Wenn mir danach ist, trage ich meine neue Jacke auch zum Einkaufen. Auch meine Lieblingsdüfte trage ich dann auf, wenn ich Lust dazu habe. Sätze, die beginnen mit "Eines Tages…" oder "Demnächst werde ich   " sind dabei, aus meinem Vokabular verbannt zu werden. Wenn es sich lohnt, will ich die Dinge hier und jetzt sehen, hören und machen.
Ich bin mir nicht ganz sicher, was deine Frau machen würde, wenn sie gewusst hätte, dass sie morgen nicht mehr sein wird. Ich glaube, dass sie noch ihre Familie und enge Freunde angerufen hätte. Dann vielleicht noch ein paar alte Freunde, um sich zu versöhnen oder sich für alte Streitigkeiten zu entschuldigen. Der Gedanke, dass sie noch zum Koreaner essen gegangen wäre, ihrem Lieblings-Restaurant, gefällt mir sehr.
Es sind diese kleinen unerledigten Dinge, die mich sehr stören würden, wenn ich wüsste, dass meine Tage gezählt sind. Ungehalten wäre ich auch, mir wertvolle Menschen nicht mehr gesehen zu haben, mit denen ich mich "demnächst" in Verbindung hätte setzen wollen. Es würde mich bedrängen, nicht die Briefe geschrieben zu haben, die ich irgendwann noch schreiben wollte. Zur Last fallen, den in meinem Herzen bewahrten Menschen nicht gesagt zu haben, dass ich sie liebe.
Jetzt verpasse, verschiebe und bewahre ich nichts mehr, was mir Freude und Lächeln in mein Leben bringen könnte. Ich sage mir, dass jeder Tag etwas Besonderes ist. „Jeder Tag, jede Stunde, sowie jede Minute ist etwas Besonderes.“
Ich bin dir dankbar, dass du mir die Augen geöffnet hast, mein Freund