JOeys Tafelrunde
Eigen- und Fremderkenntnisse

Manches erschließt sich einem erst im zweiten Moment. Dann, wenn man das Erlebte etwas verdaut, Abstand dazu gewonnen hat. So geschehen vor Kurzem.
Man stelle sich einmal vor, in eine Rolle hineinzuschlüpfen, die nur wenigen vergönnt ist und zwar in die eines mächtigen Oligarchen. Auf dieser Wirk-Ebene herrschen vollkommen andere Gesetzmäßigkeiten als beim Normalvolk. Dieses darf nur in Form von freudig klatschenden Statisten auftreten und bei erforderlichem Bedarf partiell einen ihnen zugewiesenen, negativen Beitrag leisten.
Alle Vertreter des Staates hingegen rollen vor dir den roten Teppich aus. Und egal, was auch immer geschieht, beseitigen sie sämtliche Hindernisse und Hürden, die deinem und damit auch ihrem Erfolg im Wege stehen. Sie partizipieren von deinen gelungenen Fischzügen, direkt und indirekt.
Diejenigen, die glauben, etwas gegen dich ausrichten zu können, werden geflissentlich neutralisiert oder sogar auf deine eigene Seite bewogen.
Du bist Mitte 40, nennst eine „heile“ Familie dein Eigen, der Mittelpunkt deines privaten Lebens, die in ihrem Sinne funktioniert, sich aber auch ausprobiert in der Welt da draußen. Deine Frau, eine attraktive, gut geschulte Juristin, hält schützend ihre Hand über die Kinder, wenn es notwendig erscheint, ob bei Diebstahl oder Tötungsdelikt. Du siehst gut aus, bist groß gewachsen und gebildet, sportlich und sehr tierlieb, kannst keiner Fliege etwas Zuleide tun.
Du bewohnst ein riesiges Anwesen mit vielen Angestellten, gibst oft Partys im großen Stil, bei denen sich alle Mitspieler aus Wirtschaft und Politik um dich scharen, bist eine Frohnatur und immer freundlich zu allen Mitmenschen.
Wenn da nicht dein Hobby wäre, das für dich Ausgleich und zugleich als Befriedigung einer negativ behafteten Neigung dient. Du erschießt willkürlich und genüsslich Menschen aus deinem Umfeld, natürlich immer darauf bedacht, dass die glücklich Auserkorenen auf dem unteren Milieu angesiedelt sind. Jedermann weiß oder ahnt von deinem Gelüst, auch die dir Zuarbeitenden. Du stehst aber auf dem Sockel der Unantastbarkeit, sodass dir niemand etwas anhaben kann.
Wenn dann doch einmal jemand zu lästig wird, dann entledigst du dich seiner einfach. Aber ohne jegliche schlechten Gedanken, Häme oder Trotz, sondern einfach so, weil es an der Zeit war, etwas aufzuräumen. Selbst deine heftigsten Widersacher wickelst du um deine Finger und schaffst es mit deiner smarten Art, dich ihrer zu bemächtigen, sodass sie dir letztendlich sogar treulich dienen.
Und jetzt stell dir vor, du sitzt im Kino vor einer großen Leinwand und erlebst diese heile Welt, diese Traumwelt eines Mächtigen, der es sich wunderschön einrichtet hat. Der Film beginnt bei Sonnenschein und zeigt die Welt in prächtigen, anmutigen Bildern. Und der Film endet herzlich und ausgelassen, gibt einem das Gefühl des Aufgehoben seins, der Wärme und Zuversicht.
Man taucht also in diese bislang unbekannte, fremde Welt der Oberschicht ein und erlebt dort deren Regeln und Gesetzmäßigkeiten, die so gar nichts mit der eigenen, tagtäglich erlebten Wirklichkeit zu tun haben Und wie bei jeder Begebenheit, die einem widerfährt, wird unser Unterbewusstsein von Zeit zu Zeit getriggert. In diesem Falle von unserem Oligarchen, dessen Rolle uns erst befremdet, vor Allem wegen seines vermeintlich unlauteren Hobbys, uns dann aber mehr und mehr einnimmt.
Diese Unbekümmertheit, die Liebe zu seiner Frau und seinen Kindern, sein Herz für Tiere, seine allgegenwärtige, unumstößliche Fröhlichkeit und die unheimliche Macht seines Erfolges ziehen uns in seinen Bann. Unterschwellig bemächtigt sich der Hauptprotagonist unseres Nichtbewusstseins. Wer sich jetzt die Zeit nimmt und das fiktiv Erlebte vor Augen führt, spürt die tiefen Abgründe, die uns wohl allen innewohnen.
Ach, bevor ich es vergesse, was mich zu diesen Zeilen inspiriert hat. Da gibt es eine bitterböse Satire namens „Veni vidi vici“ aus dem Jahr 2024 über die Allmacht eines Superreichen. Ein Filmchen zum Schmunzeln für die Einen, ein Aha-Erlebnis für die Anderen, welche den Weckruf verstanden haben.
Ich selbst habe mir mal wieder die Frage gestellt, wie ich damit umgehen möchte, dass es auf der Weltenbühne unterschiedliche Ebenen zu geben scheint. Dabei habe ich erkannt, dass ich in der wahren Welt, wie sie sich mir zeigt, ebenfalls oftmals nur einen Zuschauerplatz innehabe, der mir von anderen zugewiesen wurde. Mit dieser Perspektive komme ich bislang einigermaßen zurecht. Vor allem unter dem Aspekt, dass es Dinge in meinem Leben gibt, auf die ich keinen Einfluss geltend machen kann. Dann übe ich mich in Gleichmut, gehe zum Waffenschrank und hole meine Knarre raus.