Im alten Tibet entwickelte sich über die Jahrhunderte eine eigenständige Heilmethode namens „Traditionelle Tibetische Medizin“, welche stark beeinflusst wurde durch die Heilmethoden aus Indien, China und Persien. Basierend auf der vorbuddhistischen, schamanistischen Bön-Tradition verschmolz diese mit ayurvedischen und buddhistischen Elementen. Das Hauptwerk der TTM ist das „Buch der vier Tantras“ aus dem 12. Jahrhundert mit drei medizinischen Kategorien. Diese sind Spiritualität auf Basis von Meditation und ethischer Orientierung, Tantra mittels Yoga und Chi Gong, sowie Somatik mit einer großen Bandbreite, wie beispielsweise Kräuter, Diäten, Massagen oder Akupunktur.
Die TTM hat es trotz chinesischer Vereinnahmung Tibets im Jahre 1951 geschafft, sich am Leben zu erhalten, obwohl es nur noch sehr wenige Medizin-Lamas gibt. Früher musste man ein 14-jähriges Grundstudium absolvieren, nach dem nur die begabtesten Absolventen das anschließende, sechs Jahre andauernde, und äußerst strenge Hauptstudium durchliefen. Danach erfolgte noch eine mehrjährige Hospitation bei einem praktizierenden Arzt. Diese Voraussetzungen gelten heute nicht mehr. TTM wurde stark verwässert und wird aktuell nur noch auf der Uni in Lhasa unterrichtet.
Trotzdem scheint es mir interessant, näher darauf einzugehen, da es der TTM ähnlich ergehen könnte, wie damals der TCM in China, die heute stärker denn je blüht.
In der tibetischen Krankheitslehre existieren 84.000 Störungen, die man in 404 Krankheiten unterteilt. 101 sind karmisch bedingt, 101 beruhen auf dem aktuellen Leben, 101 werden durch fremde Kräfte verursacht und 101 sind von „oberflächlicher“ Natur. Allesentscheidend, ob wir gesund sind oder krank werden, ist die geistige Haltung. Dabei wirken die fünf Elemente -Erde, Wasser, Feuer, Luft und Bewusstsein- auf uns ein, wobei in der TTM drei Energien besondere Beachtung finden:
Lung (Wind): Lebenskraft, konzentriert im Zellkern, kontrolliert den Stoffwechsel. Tripa (Galle): Vital-Energie, freigesetzt beim Abbau-Stoffwechsel. Pä-ken (Schleim): Vital-Energie, freigesetzt beim Aufbau-Stoffwechsel. Dabei sei angemerkt, dass alle Krankheiten nach der TTM ihren Ursprung in einer Lung-Störung haben.
Wesentlich in der TTM ist der psychosomatische Aspekt, der im Vordergrund steht, sowie die bedeutsame Rolle des behandelnden Arztes, der sein gesamtes Wissen, einschließlich Magie, Religion, Spiritualität, Psychologie und Empirie für den Heilungsprozess liebevoll einbringt. Seine Diagnose stützt sich dabei, oberflächlich betrachtet, nur auf Puls und Urin. Er erkennt detailliert die Anzeichen jeder Krankheit.
Hinzu kommt noch das spirituelle Verständnis im tibetischen Hochland, dass der Körper der Diener des Geistes ist. Man kann den Körper vom Geist her heilen oder umgekehrt, den Geist vom Körper her heilen. Der Geist, unser Bewusstsein, ist dabei von immenser Bedeutung. Es ist die besondere Beziehung zwischen unserem Geist und dem inneren Wind (Lung). Und dieser Wind zirkuliert durch unseren gesamten Körper, durch alle Kreislaufsysteme.
Natürlich hatte die damals praktizierte TTM auch ein paar Schwachstellen, die man eigentlich vernachlässigen könnte. Trotzdem sind ein paar außergewöhnliche Stilblüten erwähnenswert: So brachte das von den Lamas praktizierte Her-Beten erlernter Texte nicht immer das gewünschte Ergebnis. Kam es dabei zur Todesfolge, wurde dem Lama unterstellt, dass er den Text falsch aufgesagt habe, was aber keine Konsequenzen für ihn selbst hatte. Da jegliche Behandlung des Heilkundigen in Form eines geldwerten Energieausgleiches beglichen werden musste, waren die zumeist in Leibeigenschaft gehaltenen Bauern von der TTM ausgeschlossen. Operationen fanden damals -aus dem buddhistischen Verständnis heraus- nicht statt, abgesehen von Verstümmelungen als Körperstrafe. Beeindruckend war auch die erfolgreiche Umsetzung ihrer Heilmethode bei Infektions-Krankheiten wie den Pocken. Da war es üblich, den Erkrankten samt seiner Familie in die Berge zu treiben, wo sie Wind, Wetter und wilden Tieren ausgesetzt waren und dort allesamt ungestört transformieren konnten.
Falls es die traditionelle tibetische Medizin dann doch einmal schaffen sollte, sich in der Neuzeit zu etablieren, dann müssen ja nicht alle Elemente davon übernommen werden.